Bericht für die Berliner GEW - Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft
Kein freier Zugang zu Bildung: Streik und bundesweite Demonstrationen der PsychotherapeutInnen in Ausbildung (PiA)



Vom 5. bis 9. Dezember 2011 gingen bundesweit rund 1400 PsychotherapeuteInnen in Ausbildung (PiA) auf die Straße, um zu demonstrieren und zu streiken. Der Protest richtet sich gegen unzumutbare und prekäre Bedingungen während der Ausbildungszeit. Er richtet sich auch gegen die Verletzung des Rechts auf freien Zugang zu Bildung und zu den Bildungseinrichtungen.

Ausgangssituation

PiA sind Psychologen (1) und Pädagogen mit Diplom- bzw. Masterabschluss, die nach ihrem Studium eine 3- bis 5-jährige Ausbildung zum Psychologischen Psychotherapeuten oder zum Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten an staatlich anerkannten Instituten absolvieren. Die Ausbildung ist teuer, denn sie muss mit 25.000 € bis 50.000 € selbst finanziert werden. Nach erfolgreicher Abschlussprüfung berechtigt die Approbation die Ausübung des akademischen Heilberufs. Integraler Bestandteil dieser Ausbildung ist die „Praktische Tätigkeit“ in psychiatrischen Kliniken und psychosomatischen Einrichtungen, die sich über einen Zeitraum von anderthalb Jahren erstreckt. Mit Inkrafttreten des Psychotherapeuten-Gesetzes 1999 wurde festgelegt, dass die „Praktische Tätigkeit“ absolviert werden muss, aber nicht, dass sie auch vergütet werden sollte. Diese Gesetzeslücke nutzen die Kliniken – insbesondere in Großstädten und Ballungsgebieten – aus. So zahlen die Berliner Kliniken ein Taschengeld zwischen 100 € und 400 € für eine Arbeitszeit von durchschnittlich 30 Stunden pro Woche, teilweise sogar keinen einzigen Cent. Planstellen werden eingespart und durch „billigere“ PiA ersetzt. Wo Anleitung und Supervision zudem noch fehlen, entsteht häufig das Gefühl, ins kalte Wasser geworfen zu werden. Eingesetzt werden PiA für hochqualifizierte Aufgaben, wie Diagnostik, Einzel- und Gruppenpsychotherapie. Die „Praktische Tätigkeit“ verfehlt das ursprünglich vorgesehene und bescheidene Ziel, die Krankheitsbilder lediglich kennen zu lernen und wird zur vollwertigen Arbeit im Rahmen der regulären Pflichtversorgung psychiatrischer und psychosomatischer Patienten. PiA fühlen sich ausgebeutet und übernehmen durch ihre Privatfinanzierung den Sparpostens im Gesundheitssystem.

Ziel des Protests

Psychologischer Psychotherapeut und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut kann nur werden, wer viel Geld hat oder wer kreditwürdig und dazu auch noch bereit ist, sich hoch zu verschulden. Das Recht auf freien Zugang zu Bildung, das eigentlich durch die UN-Charta, durch das Grundgesetz und auch durch die Verfassung von Berlin garantiert sein sollte, wird nicht gewahrt. PiA sind der Meinung, dass eine Änderung überfällig ist. Deshalb richten sie sich mit ihren Protesten einerseits an die Regierung, der bereits ein Vorschlag zur Reformierung des Psychotherapeuten-Gesetzes vorliegt. Andererseits fordern sie direkt von den Kliniken eine angemessene Vergütung, weil diese finanziellen Verhandlungsspielraum haben.

Die Streikwoche

Unter dem Motto „PiA – PsychotherapeutIn in Ausbeutung“ wurden Anfang Dezember letzten Jahres mehrere Berliner Kliniken für eine Woche lang bestreikt. Zudem fanden in verschiedenen Städten Deutschlands Solidaritäts-Demonstrationen statt, um Aufmerksamkeit zu erlangen und die Öffentlichkeit über die ungerechten und existentiell bedrohlichen Bedingungen in der Ausbildung zu informieren.

Zum Auftakt der Berliner Streikwoche versammelten sich am Montag, den 5. Dezember, ungefähr 80 Teilnehmer vor dem Auguste-Viktoria-Klinikum (AVK). An eine lange Wäscheleine wurden viele Hemden gehängt, um symbolisch darzustellen, dass PiA ihr letztes Hemd für die Ausbildung geben. Anschließend marschierten sie in einem Demo-Umzug um das Klinikgelände und machten lautstark mit Kundgebungen, Sprechchören und Trillerpfeifenlärm auf ihre Situation aufmerksam. Gegen Mittag fuhren die Demonstranten gemeinsam nach Berlin Mitte, um sich mit den Streikenden der Charité Facilitiy Management (CFM) zu solidarisieren. Die CFM wurde 2006 gegründet, um nichtpflegerische und nichtmedizinische Leistungen auszugliedern und somit einen Tarifvertrag zu umgehen. Hunderte von CFM-Streikenden, PiA und UnterstützerInnen fanden sich zu einer Protest- und Solidaritäts-Aktion auf dem Charitéplatz zusammen, um deutlich „Nein“ zu Billiglöhnen, Ausbeutung und tariffreien Zonen zu sagen und gleichzeitig mit einem lautschallendem „Ja“ Tarifverträge einzufordern.

An den folgenden Tagen trafen sich nicht nur streikende PiA des AVK, sondern aus acht weiteren Berliner Kliniken tageweise wechselnd vor dem Auguste-Viktoria-Klinikum und der Charité Mitte. Dort hängten sie täglich ihre letzten Hemden an die Leine, hielten Kundgebungen, verteilten Flyer an Passanten und sammelten Unterschriften für ihre Resolution, mit der sie die Regierung auffordern, das Psychotherapeutengesetz endlich zu reformieren. Zudem hatten die PiA der verschiedenen Kliniken die Möglichkeit, sich kennen zu lernen und auszutauschen. Gewerkschaftsvertreter erklärten, dass eine Bezahlung der Praktischen Tätigkeit nur durch Tarifverträge erreicht werden kann, sodass sich viele PiA für eine Mitgliedschaft entschieden.

Die große Demo

Höhepunkt der Streikwoche war Donnerstag, der 8. Dezember, an dem nicht nur in Berlin, sondern in sieben weiteren Städten Demonstrationen stattfanden. Ungefähr 450 Berliner PiA versammelten sich vor der Charité Mitte, um sich für den Demo-Umzug vorzubereiten. Große Aufmerksamkeit bekam die „PiA-Sklaven-Aktion“: Ein als Klinik-Chef verkleideter PiA ließ sich auf einer rollenden Couch von angeketteten „PiA-Sklaven“ ziehen und trieb sie mit Peitsche und Megaphon durch die Straßen. Mit dieser Performance wurde provokativ zum Ausdruck gebracht, dass das bestehende Missverhältnis von erbrachter Arbeitsleistung und fehlender Bezahlung so groß ist, dass es als Sklaverei empfunden wird. Die Demo zog zum Verwaltungsgebäude der Charité, zum Marburger Bund und schließlich weiter durch Berlin Mitte zum Bundesministerium für Gesundheit. Es gab Kundgebungen von Vertretern der Berufsverbände „Deutsche PsychotherapeutenVereinigung“ (DPtV) und „Bundesverband der Vertragspsychotherapeuten e.V.“ (bvvp), vom PiA-Bundessprecher Robin Siegel sowie von den PiA und auch von Studierenden selbst. Es wurden Spontan-Zwischenstopps an der FDP-Zentrale und am Helios Klinik-Konzern (0-€-Klinik) gemacht. Lautstarke Trillerpfeifen- und Trötengrüße wurden live via Handy-Verbindung an die Demonstranten in den anderen Städten gesendet. Vier Stunden lang erschallten nicht enden wollende Sprechchöre wie „Arbeit mit Diplom – Nicht ohne Lohn!“ oder „Rücken krumm, Taschen leer – Klinikleitung danke sehr!“. Es entwickelte sich eine beeindruckende Atmosphäre gemischt aus Mut, Zusammenhalt, Solidarität und wütendem Protest. Vor dem Deutschen Bundestag, dem Endpunkt der Demo, zündeten die Teilnehmer Kerzen an und schalteten Taschen- und Fahrradlampen ein, um auch noch im Dunkeln gesehen zu werden und somit ein Signal zu senden.

Aktionen bundesweit

Zeitgleich fanden Demos in Mannheim, Wiesbaden, Köln, Hamburg, Münster, Nürnberg und München statt. In Mannheim versammelten sich auf dem Paradeplatz rund 120 Teilnehmer, die teilweise aus der Umgebung (Heidelberg, Stuttgart, Ulm, Freiburg) angereist kamen. Aus Umzugskartons wurden kleine Büros aufgebaut, in denen PiA Therapiestunden für 1,77 €, dem durchschnittlichen PiA-Stundenlohn in der Region, anboten. Später stellten sich alle in einem großen Kreis auf, um gestapelte Kartons als Symbol für die Mehrfachbelastung durch Ausbildung, Nebenjob und Schulden weiterzureichen. Die Mannheimer sammelten gleichermaßen Unterschriften für die Resolution der Berliner PiA. An das Bundesministerium für Gesundheit adressierte Postkarten wurden an Passanten verteilt. Diese brauchten dann nur noch ausgefüllt und abgesendet zu werden. Somit entstand eine einfache und schnelle Möglichkeit, um die Regierung auf den Missstand hinzuweisen und der eigenen Empörung Ausdruck zu verleihen.

Wiesbaden

Aufsehen erregte auch die Demo in Wiesbaden, die von Studierenden, den zukünftigen PiA, organisiert wurde. An die 250 Teilnehmer versammelten sich am Hauptbahnhof und zogen mit Bannern, Trillerpfeifen, Trommeln und Freud-Masken bestückt über Hauptverkehrsadern zur Landespsychotherapeutenkammer, wo sie vom Präsidenten der Kammer begrüßt wurden. Mit viel Lärm und Schlachtrufen wie "Keine Therapie für lau" und "Null Euro Lohn - trotz Diplom" ging es weiter zum Sozialministerium. Der Leiter der Abteilung Gesundheit bot spontan den PiA-Sprechern und Demo-Organisatoren ein Gespräch an. Er zeigte Verständnis für die Situation der PiA und schlug vor, die Brisanz der öffentlichen Debatten um psychische Störungen wie Depression und Burnout zu nutzen, um auf die Überlastung der PiA aufmerksam zu machen. Die lauten Pfiffe und Rufe der Demonstranten schallten durch die dicken Wände des Sozialministeriums und begleiteten das Gespräch. Weitere Attraktionen waren Kundgebungen der Vertretern von ver.di und des Berufsverbands bvvp, sowie eine Suppenküche für PiA, ein PiA-Quiz, Postkarten an das BMG und außerdem eine Hemden- und Lichter-Aktion, um Solidarität mit den Berliner PiA auszudrücken.

Köln

Vor dem Kölner Dom kamen an diesem Donnerstag im Dezember 2011 an die 200 Demonstranten zusammen. Letzte Hemden wurden wie in Berlin und Wiesbaden an eine Wäscheleine gehängt. Festangestellte Klinikkollegen hielten Reden und einige PiA „plauderten aus dem Nähkästchen“ ihrer Praktischen Tätigkeit. Auf diese Weise wurde bekannt, dass eine Bonner Klinik zwar keine Vergütung zahlt, dafür aber einen Fahrtkostenzuschuss gewährt, der mit Beginn einer bezahlten Nebentätigkeit wieder gestrichen wird. Dieses löste Verwunderung, Ärger und Empörung aus. Die Demo-Organisatorin trug ein Schild mit der Aufschrift „In Kölner Kliniken arbeiten Psychologen ohne Gehalt!“, wodurch sie des Öfteren von Bürgern ungläubig angesprochen wurde. Der stellvertretende NRW-PiA-Sprecher gab ein Interview für die „Kölnische Rundschau“. Viele Unterschriften wurden von Demo-Teilnehmern und Passanten für die Berliner Resolution gesammelt. Lautstarker Protest und spontane Sprechchöre („Wir wollen Gehalt!“) waren im Zentrum von Köln zu hören.

Hamburg

Die Hamburger PiA, organisiert im „PiA-Netz-Hamburg“, nutzten die Gelegenheit, um die Proteste der Jahre 2009 und 2010 wieder aufleben zu lassen: Vor dem Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf UKE versammelten sich um die Mittagszeit rund 200 Teilnehmer, um gegen Ausbeutung in der Ausbildung zu protestieren. Plakate mit Aufschriften „Ausbeutung von PsychologInnen bei Asklepios und UKE“ und „Psychotherapieausbildung: Lernen wir mehr über Freud oder Leid?“ hielten sie während ihres Protestmarsches um das Klinikgelände in die Höhe. Die Hamburger sprachen bereits im Vorfeld der Streikwoche ihre Solidarität mit den Berlinern aus und hängten jetzt als Zeichen dafür ihre letzten Ausbildungshemden an eine lange Wäscheleine. Bereits im letzten Jahr streikten die Hamburger PiA und erreichten dadurch eine Erhöhung der Vergütung von 0 € auf immerhin 3 € pro Stunde!

Münster

In Münster waren es 100 PiA, die sich nach nur 4 Tagen Vorbereitungszeit am Bahnhof trafen und durch die überfüllte Innenstadt, vorbei an den Weihnachtsmärkten zum Domplatz zogen. Passanten wurden über das Anliegen der PiA aufgeklärt und gleichzeitig konnten Unterschriften für die Berliner Resolution gesammelt werden.

Ergebnisse

Im Anschluss an die Demo- und Streikwoche ließen sich zwei Berliner Kliniken auf Verhandlungsgespräche mit ihren PiA ein und haben die Vergütungen für die Praktische Tätigkeit erhöht. Nachdem bereits der Klinikkonzern Vivantes im Zuge des ersten Berliner Protest-Tages am 8. Juni 2011 die Vergütung von 200 € auf 400 € verdoppelt hat, wird die jüngste Anhebung als Erfolg und auch als ein erstes Zeichen einer Wende gewertet.

Insgesamt war es sehr beeindruckend, wie viele Städte sich mit den Berlinern solidarisiert haben. Es war erstaunlich wie viele PiA in so kurzer Zeit aktiv wurden und sich engagierten. Viele sind anscheinend nicht mehr bereit, Ausbeutung in ihrer Ausbildung hinzunehmen. Die Atmosphäre auf den Demos war sehr stark emotional aufgeladen. Die Zeichen der Zeit stehen auf Protest und auf Veränderung. Wir dürfen gespannt sein, wie sich die Mobilisierung der PiA in 2012 fortsetzt und welche weiteren Erfolge gemeinsam mit Gewerkschaften und Berufsverbänden erreicht werden können. Die Berliner Streikwoche war erst der Anfang! ... Stefanie Ulrich

(1) Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in diesem Bericht größtenteils die männliche Form gewählt, wobei stets beide Geschlechter gemeint sind.